600er durch Mecklenburg

Nach der 500er Runde im Harz „fehlte“ mir jetzt noch ein 600er Brevet. Nach den Erfahrungen mit dem Garmin und den Regentropfen auf dem Display wollte ich diesmal ein Wahoo-Gerät verwenden, das Gerät hat ja kein Touch-Display. Dafür gab es direkt zum Start die Fehlermeldung „Route zu lang! Keine Navigationshinweise!“…. na toll…. bis zum Abendstart waren es nur noch 20 Minuten…. Erstmal die Anmeldung erledigt, die Warnweste vorgezeigt. Der Organisator von ARA Hamburg startet mit, möchte aber pünktlich zum Start von irgendeinem EM-Spiel am nächsten Tag wieder zurück sein und vor der Kiste sitzen. Für mich undenkbar…

Hamburger Hafengebiet

Reihe mich wieder hinten ein, die kleine Gruppe macht sich auf den Weg und schnell verliere ich durch die Ampeln und den Stadtverkehr die anderen aus den Augen. Noch gibt es Verkehrsschilder mit der Aufschrift: „Hafengebiet, Schienenfahrzeuge haben Vorrang“…. erst schlängeln wir uns auf kleinen Straßen durch die Eigenheimsiedlungen im Hamburger Speckgürtel, dann fahren wir immer häufiger über Straßen, die mit: „Kraftfahrzeuge verboten, Landwirtschaft ausgenommen“ ausgeschildert sind. Das wird ohnehin ein Highlight dieses Brevets: kleine und verkehrsarme Straßen!

Die Sonne scheint, begleitet mich in den Radabend. Auf einigen Abschnitten fahre ich mit Markus und Hauke aus Bremen, beide arbeiten beim NDR. An der ersten Kontrolle in Ratzeburg rausche ich erstmal vorbei, meine Kilometertabelle stimmt nicht; hinterher dann aber 😉

Falsches Rad für die Platte 😉

Es geht in die erste Nacht hinein, in Wismar ist die Kontrolle an der ARAL-Tankstelle nicht mehr offen für das Bunkern von Vorräten, die hat schon zu. Wünsche mir dringend öffentlich zugängliche Wasserspender in Deutschland, wie sie in vielen anderen Ländern üblich sind.

Faszination Nachtfahrt

Das Wahoo-Problem äußert sich jetzt: muss vor den kleinen Ortschaften oder Kreuzungen in Mecklenburg immer die Wahoo-Displaybeleuchtung aktivieren, um die Route zu sehen. Es gibt ja keine aktiven Navigationshinweise, nur die Route als Pfeile auf dem Display. Hätte sicherlich auch die Displaybeleuchtung dauerhaft anlassen können, wegen dem Stromverbrauch aber Bedenken. Ich mache ein Nickerchen in einer Bushaltestelle, Hauke und Markus rollen vorbei und übersehen mich komplett, völlig vertieft ins Radeln und Quatschen. Die kurzen Nickerchen sind diesmal meine „Strategie“ für den Schlafmangel auf der 600er-Strecke.

Bunkere hinter Wismar auf irgendeinem Dorf in MV auf ein Friedhof frisches Wasser, ein Verkaufsautomat von einem Landwirt bietet rudimentäre Versorgung: Salami-Sticks von glücklichen Kühen und eine Apfelschorle für geschmackliche Abwechslung im Mund.

Sonnenaufgang hinter Heiligendamm

Warnemünde empfängt mich mit warmen Licht, aber noch mit verschlossenen Türen. Es ist noch viel zu früh, die Bäcker räumen noch ihre Geschäfte ein… Endlich in Graal-Müritz ist ein Bäcker offen. Werde bei der Bestellung gefragt, für wen denn die zwei belegten Brötchen und die zwei Stück Kuchen sein sollen. Verstehe die Frage nicht, das ist doch selbstverständlich gerade so ausreichend für mich. Anschließend sammeln sich stetig und ohne große Auffälligkeiten die Kilometer, erreiche den Umkehrpunkt in Barhöft. Andere Starter oder Starterinnen haben hier den Sonnenaufgang erlebt, ich bin zur Mittagszeit hier. Vor Stralsund dokumentiere ein Chausseehaus, hinter Stralsund führt der Track irgendwie über eine Kraftfahrstraße. Da hab ich überhaupt keine Lust drauf, wurschtele mich so irgendwie durch und komme mit einem moderaten Umweg von 2 Kilometern wieder auf die Strecke, der Kilometerzähler steigt wieder stetig auf den kleinen Straßen. Die Stadt Tribsees liegt träge in der Sonne, die vielen „Geschäfte“ in der Innenstadt sind nur dekoriert und nicht wirklich in aktiver Nutzung. Der Struktur- und Demographiewandel wird sichtbar und spürbar. Irgendwo unterwegs hole ich neue Vorräte, der EDEKA sieht wirklich heruntergekommen aus. Der wäre im Speckgürtel von Berlin in der Form undenkbar!

Beispielfoto: Geschäfte in Tribsees

Gegen 17:00 Uhr habe ich einen Durchhänger. Die Sonne ist mir zu warm, in den Beinen ist nichts zu holen, habe keinen Hunger, jede kleine Bö Gegenwind oder Steigung bringt mich gefühlt zum Stillstand…. Finde in einem Ort eine Bushaltestelle, schlafe da erstmal ne halbe Stunde, sehr zur Verwunderung der örtlichen Bevölkerung. Dann geht es wieder, rolle weiter, liege gegen 19:00 Uhr nochmal auf einer Bank. Ein Simsonfahrer hält neben mir, weckt mich und fragt, ob alles in Ordnung ist bei mir…. Ja, danke für die Fürsorglichkeit. Mir kommen die Starter vom „Morgenstart“ entgegen, teilweise schicke Räder, teilweise Räder direkt als Versender-Standard. Viel Gelegenheiten für einen Schwatz gibt es nicht, nur an einer Tanke fällt mir wieder der „Verbrauch“ unseres Sportes an Einwegflaschen auf. Ein Randonneurspärchen aus der „Gegenrichtung“ hat gerade die Flaschen gefüllt, meine noch dazu und schon stehen da drei Euro in Pfandwert. Dafür machen die kleinen Straßen wirklich Spaß!

Es geht wieder in die Nacht hinein. Mit Einbruch der Dunkelheit kriege ich ein wunderbares Schauspiel geliefert: in den Wäldern gibt es Glühwürmchen… RICHTIG viele, bis tief in die Wälder hinein ist hüfthoch alles voll mit den kleinen Leuchtpunkten. So wunderbar!

Dann gibt es wieder Äcker, die Sicht wird frei auf die zunehmende Bewölkung am Horizont. Die Wetterapp hat auch keine guten Nachrichten, es soll Gewitter geben. Zwei Stunden lang rolle ich Richtung Westen, sehe südlich von mir das Wetterleuchten. Kurz vorm Rasthof Wittenburg setzt auch auf der Strecke der Regen ein, es ist 1:30 Uhr in der Nacht, ich habe ungefähr noch 100 Kilometer zu fahren.

Rasthof Wittenburg an der A24

Ich habe wieder einen moralischen Durchhänger. Die Aussicht auf 100 Kilometer im Regen in meinem Zustand lässt mich an dem Sinn des ganzen Vorhabens zweifeln. Gegenüber von der ARAL-Tankstelle leuchtet groß die Reklame vom Hotel. Welche Optionen habe ich? Wenn ich ins Hotel ziehe, dann ist das Zeitlimit nicht zu schaffen. Andererseits holt mich hier im Nirgendwo um diese Tageszeit auch niemand ab, eine Rückreise per ÖPNV wäre auch keine Option…. also wieder aufs Rad. Vorher gibt es noch frische Käsebrötchen von ARAL, der Typ hinterm Nachtschalter kann allerdings mit dem Begriff „Dieselhandschuhe“ nichts anfangen. Da hilft die nahegelegene TOTAL-Tankstelle, die hat sowas. Überhaupt, wie würden Randonneure ohne Tankstellen klar kommen? Über längere Strecken erlebe ich ein ganz komisches Gewitter: Nieselregen und Blitze, die quasi horizontal in den Wolken bleiben. Das gibt dann für diese Blitzdauer so ein ganz mystisches Licht, während ich durch Westmecklenburg zacke. Zwischendurch wieder Powernaps, dann kommt grau der Tag zum Vorschein.

zweiter Tagesanbruch

Dann gibt es ein klassisches Gewitter:

Das Wasser steht auf den Straßen, die Windböen rütteln am Rad und an meinen Nerven. Dank des Wolkenbruchs bin ich dann auch wieder trotz Regenjacke komplett nass, es läuft wie vor einigen Wochen im Harz von oben durch. Bleibe aber warm, kurbele stoisch weiter, liege noch gut im Zeitlimit.

„Tante Enso“- Laden – eine Alternative fürs Langstreckenradeln?

Tante Enso kenne ich vom Konzept her aus Schweden, allerdings richtet sich die deutsche Version nicht an solche gelegentlichen Kunden, wie es die Leute auf den Langstrecken sind. Sondern eher an die dauerhaften Bewohner und Bewohnerinnen im direkten Umfeld von solchen Filialen.

Die letzten Kilometer ziehen sich endlos hin, mache nochmal eine Snickerspause. Entlang der Elbe geht es wieder in die Stadt, irgendwann sind die restlichen Kilometer einstellig. Und dann bin ich wieder am Startort, checke mich bei EBrevet am Ziel ein, mit 38 Stunden innerhalb des Zeitlimits. Werde vom Gastgeber abgeholt, falle nach einem kurzen Frühstück ins Bett! 600er: geschafft!

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