Warum boomt Gravel?

Egal ob Instagram, Radfahrblogs oder Magazine aus Papier, der Gravelbike-Boom ist deutlich sichtbar und wird auch nicht mehr weggehen. Die Anbieter von solchen Rädern kommen kaum hinterher, die Nachfrage im Markt zu stillen, die Radhändler profitieren auch davon. Aber warum ist das Gravelbiken so erfolgreich? Meine Interpretation folgt hier.

Aber vorher der deutliche Hinweis: die französischen Randonneure, die japanischen Pass-Hunter (siehe Bicycle Quarterly Ausgabe 64) und die britischen Mitglieder des Off-Road Cycle Clubs haben schon lange vorher den Asphalt regelmässig und absichtlich verlassen, um das unbekannte Terrain zu erfahren. Die haben auch schon Bikepacking gemacht, bevor es so hieß….

Wegenetz

Aus meiner Sicht ist das verfügbare/befahrbare Streckennetz viel größer und abwechslungsreicher, als die vorhandenen Asphaltstraßen. Schätze mal grob, das man auf den Sand/Schotter/Feld und Waldwegen in Deutschland locker das fünffache an Wegstrecken zur Verfügung hat. Außerdem hat man unterwegs auch bei den Wegoberflächen viel mehr Varianten als nur Asphalt: Sand, Schotter, Graswege und vielen Wäldern in Brandenburg auch altes Pflaster. Hier und da finden sich auch Betonplatten oder eben auch nen quer liegender Baum…

Feldweg im Osten von Brandenburg

Technik

Die Navigation im Gelände war bisher deutlich schwieriger, als auf der Straße. Es gibt möglicherweise markierte Wanderwege, die aber unflexibel sind. Und der nachfolgend dargestellte Wegweiser ist wohl eher eine Ausnahme… und die bei Brevets übliche Navigation mit Roadbook stelle ich mir in der Schorfheide oder anderen Regionen auch eher „spannend“ vor…

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seltener Kilometerstein im Wald als Orientierungshilfe

Der Technikteil löst die Papierkarten ab und besteht aus drei „Bausteinen“, die ineinander greifen. Fürs Wandern sind Papierkarten mit ihrem unhandlichen Format ok, aber beim Radeln immer Absteigen, Karte ausklappen und sich grob orientieren, dann weiter radeln? Bremst den „Flow“ doch sehr deutlich. Und ausreichende Ortskenntnis für einen kompletten Verzicht auf Karten hat man dann doch nur in einem sehr begrenzten Gebiet. Der Part wird von GPS-Geräten oder Smartphones übernommen, die sind praktischerweise am Lenker montiert und immer im Blickbereich. Die Dinger sind inzwischen kartenfähig geworden, die blanke schwarze Linie auf dem sonst leeren Display hat ausgedient.

Die Karten-Daten für diese Geräte kommen quasi von Openstreetmap, damit kann sich jeder die Kartendarstellung seiner Wahl sehr günstig/kostenlos und mit riesiger Abdeckung aufs Gerät schieben. Selbst Garmin und Wahoo nutzen für ihre Kundendienste inzwischen die offene Geo-Datenbank.

Die Tourdaten werden inzwischen in einem Allgemeinformat (*.gpx) zur Verfügung gestellt und von allen Geräten/Planungsplattformen verstanden.
Die GPX-Dateien gibt es bei verschiedenen Veranstaltern oder Plattformen zum Download, niemand muss sich mehr mit den verschiedenen möglichen Formaten von Geokoordinaten herumschlagen. Alternativ lässt sich auf komoot & co. relativ leicht eine Tour am Bildschirm planen, entsprechende Anleitungen für die Feinheiten finden sich dann bei YouTube. Und dann: einfach der farbigen Linie auf dem Display am Lenker folgen. Und die Landschaft genießen!

Die Veranstalter vom Orbit360 nutzen die technischen Möglichkeiten konsequent aus, es wird keine Strecke mehr markiert oder ausgeschildert (wie bei teilweise noch bei RTFs), hier erfolgt sogar die Auswertung komplett digital. In einer analogen Version wäre diese Rennserie gar nicht machbar.

Die Papierkarte hat also langfristig ausgedient und wird wohl hauptsächlich noch von Nostalgikern gekauft/verwendet. Wobei ich aktuell noch beides nutze, die Karten aus Papier für den groben Überblick und zum Träumen von künftigen Touren, die elektronischen Sachen für den praktischen Einsatz am Rad. Gelegentlich die Papierkarte in der Tasche…

klassische Papierkarten

Das andere Extrem sind dann leider die Smartphone-Anwender, die mit Google-Maps ohne Empfang in der Schorfheide stehen und damit trotz Gerät orientierungslos sind. Wenn dann noch andere Orientierungsfähigkeiten in der freien Natur fehlen… ist das geparkte Auto oder der gesuchte Bahnhof schnell unerreichbar… Habe auch schon mehrfach Leute in der Schorfheide getroffen, die nach dem Weg fragten…

Abkehr vom Straßenverkehr mit seinen Gefahren

Eigentlich ist in dem Artikel von Outsideonline.com alles beschrieben bzw. mit Abwandlungen für Europa/Deutschland nachvollziehbar. Ich wurde 2017, 2018 und 2019 von Autofahrern „vom Rad geholt“ und kann inzwischen sagen, das ich mich auf einem Feldweg deutlich besser bzw. freier fühle, als auf einer Allee. Wo dann teilweise immer noch viel zu eng überholt wird. Manchmal wünsche ich mir eine Box am Rad, die automatisch bei zu engem Seitenabstand nen orangenen Streifen ans jeweilige Auto sprüht… das Natur-Erlebnis ist auf jeden Fall intensiver abseits der Straßen.

weniger Konkurrenz/Wettbewerbscharakter/andere Lebenseinstellung

Es geht nicht um den Sprint am Ortseingangsschild, es geht nicht um das lange Fahren im Windschatten mit belgischen Kreiseln oder die rasierten Beine. Es geht um den Spaß auf dem Rad! Und erlebe ich aus meinem eingeschränkten Blickwinkel  bei den Leuten doch viel mehr Gelassenheit, als in anderen sportlichen Ausprägungen vom Radfahren. Klar, wer sich austoben möchte, für den gibt es Formate. Wen man sich jedoch Berichte zum Hansegravel, zum Candy-B-Graveler und alle den anderen vielen Formaten durchliest, stellt man schnell fest: das gemeinsam überstandene Unwetter oder die nach langer Durststrecke gefundene Tankstelle viel mehr Erinnerungswert bieten,  als die Platzierungen beim Velothon in Berlin vor drei Jahren 😉

Gavelbikes?

Bin mir nicht sicher, ob dieser „neue“ Radtyp zum Erfolg des Gravelbikes-Boom so viel beiträgt oder das Marketing da passend auf der Welle mitschwimmt. Mit starren MTBs oder Crossrädern wären die meisten Schotterwege genauso befahrbar, die technischen Unterschiede sind eigentlich Feinheiten und schlagen sich wohl im Freizeit-Einsatz kaum in deutlich anderen Fahrzeiten nieder. Fahrkomfort als Argument für explizite Gravelbikes lasse ich gelten 😉 Ansonsten gibt es zum Bikepacking-Rad bei Biketour-Global noch nen schönen Artikel.

Eure Meinung? Welche Aspekte habe ich vergessen?

Ein Kommentar zu „Warum boomt Gravel?

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  1. Das Gravelbike nimmt nur den Platz ein, den die ersten Mtbs bis ca 1998 hatten: rumfahren auf allen Wegen, manchmal ein Singletrail.
    Danach wurden die Fahrwerke extrem verbessert, damit man schwierigsten Gelände überlebt. Die Freeride Filme und später YouTube haben den ganz neuen Fahrstil verbreitet. Folge: ein modernes MTB wird ins Auto verladen und zu den seltenen, teils weit entfernten, gebauten Strecken verfrachtet. Zuhause ein bisschen MTB fahren klappt für die meisten nicht mehr. so wie Motocross und BMX hat sich das MTB in eine kleine, radikale Nische zurückgezogen, welche größtenteils in speziellen Parcs mit großem Materialeinsatz und spezieller Schutzkleidung bearbeitet wird

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